Nachhaltigkeit ist das große Thema unserer Zeit. Um ihm gerecht zu werden, setzt Europa unter anderem auf die Kreislaufwirtschaft, flankiert durch zahlreiche Regularien. Der digitale Produktpass (DPP) spielt eine Schlüsselrolle auf dem Weg dorthin – damit Unternehmen nicht nur Auflagen erfüllen, sondern auch Chancen ergreifen und neue Geschäftsmodelle, Produkte und Services entwickeln können.
Wer groß denkt und klein anfängt, kann mit dem DPP auf Basis der standardisierten Verwaltungsschale (VWS) in kurzer Zeit erste positive Ergebnisse erzielen und sich schon heute erfolgreich für morgen rüsten. Es scheint noch weit hin und ist doch ambitioniert: Bis 2050 will die EU das Ziel der Klimaneutralität erreichen. Um die Emissionen von klimaschädlichen Treibhausgasen auf netto Null zu senken, müssen sie bereits 2030 um 55 % niedriger liegen als heute. Da bei Produktion und Nutzung von Gütern von der Rohstoffgewinnung bis zur endgültigen Entsorgung ein erheblicher Teil der EU-weiten Treibhausgase entfallen, setzt der europäische Staatenbund auf die Kreislaufwirtschaft und stellt das Ziel der Klimaneutralität in einen größeren Kontext. Reparatur- und recyclebare Produkte verringern nicht nur den CO2-Fußabdruck von Industrie und Handel, sondern schonen auch unsere natürlichen Ressourcen allgemein.
Regulierungswelle rollt
Dieses umfassende Verständnis von Nachhaltigkeit wird Lieferketten, Industrie und Handel massiv verändern und den gesamten Produktlebenszyklus, angefangen beim Design, prägen – und das nicht erst morgen, sondern spätestens ab dem kommenden Jahr, wenn die neue EU-Verordnung „Ecodesign for Sustainable Products Regulation“ (ESPR) in Kraft tritt. Zwar wird als erste Branche die Batteriefertigung davon betroffen sein, jedoch einschließlich aller Zulieferer von Vor- und Zwischenprodukten wie Stahl oder Chemikalien. Weitere Branchen wie Unterhaltungselektronik, Informations- und Kommunikationstechnologie, aber auch Textilfertigung und Möbelindustrie werden schon bald folgen. Und 2027 wird der in der ESPR-Verordnung definierte und vorgeschriebene Digitale Produktpass (DPP) Standard sein.
Aus der Not eine Tugend machen
Es bleibt also nicht mehr viel Zeit. Bis Ende 2026 müssen Fertigungsunternehmen digitale Produktpässe vorbereitet haben. Die gute Nachricht lautet: Bei allen aktuellen und zukünftigen Vorschriften und Vorgaben für mehr Nachhaltigkeit geht es um Informations- und Dokumentationspflichten entlang der gesamten Wertschöpfungskette und zum gesamten Produktlebenszyklus.
Diese Gemeinsamkeit ebnet den Weg zu einer gemeinsamen Lösung, mit der sich alle diese Pflichten erfüllen lassen: Sie heißt Digitaler Produktpass 4.0 (DPP 4.0). Dabei handelt es sich um einen Vorschlag, den die IDTA (Industrial Digital Twin Association) zusammen mit dem Zentralverband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) vorgelegt hat.
Technisch fußt der DPP 4.0 auf dem Standard der Verwaltungsschale (VWS) oder englisch Asset Administration Shell (AAS). Kernelemente des DPP 4.0 sind der standardisierte Identification Link (ID-Link), der auf dem Produkt angebracht ist, und die Verwaltungsschale mit dem Teilmodell „Nameplate“ dem Digitalen Typenschild 4.0 oder Digital Nameplate 4.0 (DNP), das grundlegende Informationen zu einem Produkt, zum Beispiel zu dessen Hersteller, Herstellungsjahr und Seriennummer enthält.
Der digitale Produktpass ergänzt diese grundlegenden Informationen je nach Anwendungsfall um hersteller- und branchenspezifische Informationen mithilfe von standardisierten Teilmodellen wie zum Beispiel „Technical Data” oder „Carbon Footprint”, das zur Dokumentation des CO2-Fußabdrucks im gesamten Lebenszyklus eines Produkts dient.
Vorteile schaffen Mehrwert
DPP 4.0 hat entscheidende Vorteile für Hersteller wie Verbraucher:
- Standardisiert: Der digitale Produktpass basiert auf den international anerkannten Standards für das digitale Typenschild inkl. Zugriff darauf (Identifikation Link, IEC 61406) und die Verwaltungsschale (AAS, IEC 63278).
- Informiert: Durch die Standardisierung des Datenzugriffs stehen die Produktinformationen nicht nur Behörden zur Verfügung, sondern können auch anderen Unternehmen und Verbrauchern weltweit über das Internet zugänglich gemacht werden. Wichtig ist dabei zu betonen, dass das Unternehmen stets die Hoheit über seine Daten behält und den Zugriff mithilfe etablierter Authentifizierungs- und Autorisierungsmethoden gezielt steuern kann. Das ermöglicht Anbietern wie Konsumenten informierte Entscheidungen zu Kauf und Verwendung des Produkts. Wird zum Beispiel ein Akku aus einem E-Auto ausgemustert, lässt sich aufgrund der verfügbaren Informationen zu Ladezyklen und Restkapazität ermitteln, ob es für ihn nicht eine weitere Verwendungsmöglichkeit in einem weniger anspruchsvollen Szenario gibt, anstatt mit der Entsorgung zu beginnen. Zum Beispiel könnte der Akku noch leistungsfähig genug sein, um als Stromspeicher für eine Photovoltaikanlage zu dienen.
- Optimiert: Während Verbrauchern der Weg zu einem klimafreundlicheren Konsumverhalten offensteht, können Anbieter ihre Lieferkette, Entwicklung und Fertigung optimieren, ESG-Initiativen unterstützen und darüber hinaus neue sowie nachhaltigere Produkte und Geschäftsmodelle entwickeln.
- Automatisiert: Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Informationen einer VWS sowohl Menschen als auch Maschinen lesen und durch die hinterlegte Semantik klar interpretieren können. Durch einen automatisierten und standardisierten Informationsaustausch sparen die beteiligten Firmen viel Zeit und Geld. Außerdem ist die VWS auf Skalierbarkeit ausgelegt, nicht nur hinsichtlich der inhaltlichen Erweiterbarkeit durch weitere Teilmodelle, sondern auch in technischer und infrastruktureller Hinsicht.
From Zero to Hero
Unternehmen, die den digitalen Produktpass auf Basis der Verwaltungsschale einführen wollen, sollten sich den Vorteil der eingebauten Skalierbarkeit des Standards zunutze machen und klein beginnen, z. B. mit der Einführung eines digitalen Typenschilds für die wichtigste Produktsparte. Dieser Vorteil sorgt gleichzeitig dafür, das große Ziel vollständig digitalisierter, interoperabler und transparenter Wertschöpfungsketten in den Blick nehmen.
- Potenzialanalyse: Die Unternehmen sollten in einem ersten Schritt die vordringlichsten und am schnellsten zu realisierenden Anwendungsszenarien sowie ihr Nutzenpotenzial ermitteln. Mithilfe erfahrener Digitalisierungspartner ist das schon innerhalb weniger Tage möglich.
- Architektur- und Prozessberatung: Im nächsten Schritt beginnt die technische Konzeption der ersten definierten Szenarien. Dazu bedarf es einer umfassenden Architekturberatung, die nicht nur den ersten DPP, sondern immer auch das große Ganze im Blick hat. Dabei gilt es festzulegen, wie die Schnittstellen und Systemlandschaft gestaltet werden müssen, damit sich die benötigten produktbezogenen Daten automatisiert aus den verschiedenen meist heterogenen Datenquellen extrahieren und in das Standarddatenformat überführen lassen. Generell dient diese Phase dazu, die zahlreichen Fragen der Unternehmen rund um den Produktlebenszyklus, interne Prozesse, Zugriffsberechtigungen und die „Single Source of Truth” zu beantworten.
- Showcase: Um die Entscheider mit ins Boot zu holen, erweist sich eine von Projektstart an lauffähige Software und eine verständliche und zugängliche Visualisierung der ersten digitalen Produktpässe als das Mittel der Wahl. Wer die VWS und den DPP im Wortsinn greifbar und weniger abstrakt macht sowie erste Mehrwerte liefert, wird in den beteiligten Abteilungen schnell Mitstreiter für das Projekt gewinnen und für wachsende Begeisterung rund um den DPP sorgen.
- Implementierung: Sind die Budgets genehmigt und steht das Projektteam, gilt es, die Roadmap abzuarbeiten. Dabei kommt es aber darauf an, dass nicht die Technik, sondern das jeweilige Szenario und der Mehrwert für die Endanwender im Vordergrund stehen. Deshalb ist es so wichtig, die zukünftigen Nutzer von Anfang an im Projekt mit einzubeziehen und sie schon den ersten Prototypen und die weiteren Versionen ausprobieren zu lassen, um ihr Feedback in der Entwicklung bis zur Marktreife und Inbetriebnahme zu berücksichtigen.
- Optimierung: Digitale Produktpässe sind in die zunehmend digitalisierten Prozesse der Unternehmen eingebettet. Deshalb sollten kontinuierliche Optimierungen über den unmittelbaren Verwendungszweck hinausgehen und die Passinformationen als Grundlage für neue und verbesserte Prozesse sowie für neue Geschäftsmodelle dienen.
Einer für alles – den richtigen Partner auswählen
Standards, Skalierbarkeit und Wiederverwendbarkeit – darin liegt der Schlüssel, um Investitionen in digitale Produktpässe und Verwaltungsschalen schon nach kurzer Zeit zu amortisieren und um positive Erträge zu erzielen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die damit verbundenen Aufgaben zur Technik und Vorgehensweise nicht trivial sind, sondern anspruchsvoll und viel Know-how sowie Erfahrung erfordern. So schlummern in den heterogenen und verteilten Datensilos der Unternehmen oftmals nicht sauber gepflegte, teils widersprüchliche Datensätze, die erst aufgeräumt und vereinheitlicht werden müssen, um daraus standardkonforme und semantisch klar beschriebene Verwaltungsschalen erstellen zu können. Hier sind häufig noch Hausaufgaben zu machen, die sich aber lohnen werden. Unternehmen sollten bei der Einführung auf kompetente und erfahrene Partner im Markt setzen, damit der digitale Produktpass nicht nur ein notwendiges Artefakt für die Einhaltung regulatorischer Vorgaben ist, sondern auch den Grundstein für erfolgreiche neue Geschäftsmodelle und Mehrwerte für die Unternehmen bildet.
Weitere Informationen gibt es unter www.industrialdigitaltwin.org.