Noch vor zehn Jahren wäre es völlig korrekt gewesen, von einem globalen Boom der Nuklearenergie zu sprechen. Doch seit dem Super-Gau von Fukushima am Anfang des Jahrzehnts und dem Aufstieg der erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren hat sich der Wind insbesondere in Europa gedreht. Die Nutzung der Atomkraft spaltet auch die Gemüter. Und so ist sie heute eher eine regionale Spezialität – aber was für eine!
Ungeliebt in Deutschland und der Schweiz, in Frankreich im Rückwärtsgang, aber weltweit gerne genommen. Es ist also kompliziert, die Atomenergie lässt – so oder so – scheinbar niemanden kalt. Selbst mancher Experte ist sich nicht sicher, ob sich der Bau neuer Nuklearanlagen auf lange Sicht hin – mit Blick auf hohe Kosten der Atomtechnologie und günstigere Alternativen bei erneuerbaren Energien – durchsetzen wird. Fakt ist aber, dass Atomkraftwerke zumindest auf absehbare Zeit vor allem in Asien auf dem Vormarsch sein werden.
Zunahme der Kernenergie
Für die Zunahme der Kernenergie sprechen Zahlen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Danach sind derzeit rund 450 Atomkraftwerke in 31 Ländern in Betrieb. Sie produzieren etwas mehr als 380 Gigawatt jährlich. Dabei wird es aber nicht bleiben. Die IAEA geht von einer Kapazitätszunahme bis 2030 um mehr als 1,9 Prozent aus. Und sollte die Weltwirtschaft wie im Moment weiterwachsen, ist ein Anstieg auf knapp 600 GW denkbar.
Grund für das Wachstum ist der Energiehunger der wirtschaftlich aufstrebenden Länder. Daher plant China etwa 40 neue Atomkraftwerke, Russland 25 und Indien knapp 20. Europa hält sich beim Neubau von Anlagen sehr zurück. Allerdings wird Polen gleich mit mehreren Kraftwerken in die Nutzung von Nukleartechnologie einsteigen. Laut der World Nuclear Association befinden sich weltweit 164 Atomanlagen bereits im Bau und weitere 350 sind insgesamt geplant. In einigen Ländern wird es außerdem zu Laufzeitverlängerungen kommen.
China als wichtiger Markt
„Die Musik spielt ganz klar in China“, betont Dr. Tomas Hahn, Mitglied des Leitungskreises der Framatome GmbH und für die Bereiche Kunden, Politik und Innovation zuständig. „Hier haben wir beispielsweise erstmals einen EPR-Reaktor im Framatome-Design ans Netz gebracht.“ Auch insgesamt liege der Schwerpunkt der Neubauaktivitäten in China. Daher sei dieser Markt natürlich für Framatome interessant.
„Aber wir dürfen nicht nur auf den Neubaubereich schauen. Der Servicemarkt ist ebenfalls sehr wichtig“, so Hahn. Und hier seien alle Länder interessant, in den Kernkraftwerken betrieben werden. Für Framatome in Deutschland sind das beispielsweise die Schweiz, Schweden, die Niederlande, Finnland, Ungarn oder Brasilien und Argentinien sowie viele weitere Staaten.
Aus Sicht von Schroeder Valves nimmt das Thema der Instandhaltung im Nuklearbereich an Bedeutung zu. „In regelmäßigen Abständen werden in den Revisionszeiten die eingesetzten Ventile inspiziert und gewartet“, sagt Axel Mücher, Geschäftsführender Gesellschafter von Schroeder Valves. Hier würden meist nur Verschleißteile ausgetauscht und beim Hersteller neu beschafft. „Die allgemeine Lebensdauer der Ventile beträgt 20 bis 30 Jahre und unterscheidet sich nicht wesentlich von den nichtnuklearen Anlagen.“
20.000 Armaturen je Kernkraftwerk
Der deutsche Ausstieg von 2011 hatte bei Framatome unmittelbar zu Auftragsrückgängen geführt, waren doch die betroffenen Anlagen Kunden des Unternehmens. Allerdings erfolgt der Auftragsrückgang schrittweise. Denn die Sicherheitsanforderungen bleiben in einem Kernkraftwerk auch nach der Abschaltung hoch. „Zudem konnten wir vorbereitende Leistungen für den Rückbau, wie beispielsweise die chemische Dekontamination des Primärkreises, anbieten. Das ändert aber nichts daran, dass wir den deutschen Markt in den kommenden Jahren schrittweise verlieren. Deswegen treiben wir seit 2011 den Export voran“, sagt Hahn. Seit Fukushima also. Das funktioniere zum Glück gut, da die kerntechnischen Kompetenzen aus Deutschland weltweit nach wie vor anerkannt und gefragt seien. „So konnten wir unseren Umsatz bei rund 750 Millionen Euro stabilisieren.“
Anbieter von Armaturen für Atommeiler verfolgen die Entwicklung natürlich mit Argusaugen, da Nuklearanlagen grundsätzlich einen großen Ventil-Bedarf haben. „In einem Kernkraftwerk gibt es rund 20.000 Armaturen, davon etwa ein Drittel Großarmaturen, also praktisch in jedem Bereich der Anlage“, erläutert Hahn. Es kommen verschiedene Typen zum Einsatz, beispielsweise solche mit Elektro- oder Magnetantrieben, Handantrieb oder sogar passive Konstruktionen. Diese schließen sich in bestimmen Fällen selbstständig und teilweise permanent, sollten sich bestimmte Parameter wie die Temperatur und/oder der Druck ändern. Damit gewährleisten sie, dass die Medien in der druckumschließenden Armatur sicher gehalten werden.
Sicherheitsventile sind zentral
Sicherheitsventile besitzen naturgemäß eine überragende Bedeutung. Daher sind die Anforderungen an sie hoch, sie unterscheiden sich aber je nach Einsatzzweck. So gelten für viele betriebliche Einrichtungen klassische Industriestandards, die auch in anderen Kraftwerken zum Einsatz kommen. Hahn: „Für den gesamten Primärkreis, aber auch für alle sicherheitsrelevanten Funktionen gelten die Anforderungen der kerntechnischen Regelwerke, also etwa der KTA in Deutschland oder der ASME Direction III aus den USA. Hier sind genaue Vorgaben hinsichtlich der Materialeigenschaften, Berechnungskomplexität oder der Funktionsweise festgelegt. Zudem müssen wir im Vorfeld zahlreiche Nachweise erbringen, um die Komponenten für ihren Einsatz im Kernkraftwerk zu qualifizieren.“
Framatome ist am Bau zahlreicher Atommeiler beteiligt. Darunter auch – tatsächlich – Anlagen in Europa. Zum Beispiel in Frankreich und Finnland. Darüber hinaus steht ein großes Projekt in Großbritannien an, wo am Standort Hinkley Point zwei neue Anlagen entstehen. „An all diesen Projekten sind wir aus Deutschland heraus beteiligt. Insgesamt haben wir einen Auftragsbestand von rund 2,5 Milliarden Euro“, rechnet Hahn.
Rückschlagventile für Hinkley
Für das Kernkraftwerk Hinkley Point C in Großbritannien erhielt Sempell den Auftrag, acht gedämpfte Rückschlagventile (Main Feedwater Damped Check Valves, MFDCV) zu liefern. Das gedämpfte Rückschlagventil wurde laut dem Ventilhersteller für das Hauptspeisewassersystem konstruiert, um dieses Rohrleitungssystem und den angebundenen Dampferzeuger zu schützen.
Dieses Szenario gilt es mit Hilfe der Rückschlagventile zu verhindern: Schnelle Änderungen von Massenströmen in Hochdruckleitungen können Druckstöße und Kräfte verursachen, welche die zulässigen Grenzen der Materialfestigkeit überschreiten. „Somit hat das Schließverhalten von Rückschlagventilen nach einem Bruch von druckführenden Rohrleitungen besondere Bedeutung“, erklärt das Unternehmen.
Das Sempell-Design wurde entwickelt, um Druckstöße zu verhindern, die aus doppelten Rohrbrüchen in den Speisewasserleitungen im Kernkraftwerk resultieren können. Durch das gedämpfte Rückschlagventil werden Druckstöße abgefangen, die sonst Schäden in der Rohrleitung verursachen könnten. „Da neue Kernkraftwerke in einem breiten Lastbereich betrieben werden müssen, erfüllt das Sempell-Design außerdem die Forderung nach einer stabilen, voll offenen Position – angepasst an die minimalen Lastfälle. Gleichzeitig sind die Ventile im Hinblick auf Druckverluste optimiert“, erläutert Sempell.
Zum Nachweis, dass gedämpfte Rückschlagventile als Rohrbruchsicherung in Speisewasserleitungen geeignet sind, wurden im Versuchskraftwerk HDR Kahl Blowdown-Versuche mit einem Ventil DN 350 durchgeführt. Bei diesen Versuchen wurde der Störfall „doppelendiger Rohrleitungsbruch“ wirklichkeitsgetreu nachvollzogen.
Pilotventillösung
2021 wird Sempell ferner sechs Druckhalter-Sicherheitsventile (PSRV) für Hinkley Point C Blöcke 1 und 2 liefern. Der Armaturenhersteller hat sich beim gesteuerten Sicherheitsventil Typ VS99 auf eine Pilotventillösung nach dem Entlastungsprinzip konzentriert. Drei Abblasestränge mit dem Druckhalter-Sicherheitsventil werden direkt auf dem Druckhalter installiert. Bei jedem Abblasestrang ist der Eintritt des Druckhalter-Ventils an dem Druckhalterdom mit einem DN 150 Stutzen angebunden. Der Austritt ist über eine DN 200 Leitung mit dem Austrittsammler verbunden. Über den Austrittssammler werden die drei Druckhalter-Sicherheitsventile mit dem Abblasebehälter verbunden.
Eine Renaissance? Eher nicht
Dennoch: Auch wenn bei Hinkley in Großbritannien zwei neue Blöcke entstehen, liegt der Gedanke an eine Atomkraft-Renaissance in Europa fern. Es ist, wie schon gesagt, etwas kompliziert. „Das Fehlen eines breiten und nachhaltigen internationalen Konsenses über die langfristige Nutzung der Nukleartechnologie und deren geringe oder zukünftig schwer voraussehbare gesellschaftliche Akzeptanz in den einzelnen Märkten reduziert ihre Attraktivität erheblich“, bemerkt Axel Mücher, Geschäftsführender Gesellschafter von Schroeder Valves. Das Unternehmen liefert für den Nuklearmarkt Pumpenschutzarmaturen als spezielle Freilaufrückschlagventile. Diese Ventile – durchschnittlich acht pro Kraftwerk – werden in unterschiedlichen Kühl- und Notspeisesystemen der Anlagen eingesetzt.
Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass die Herstellung der Ventile für den Nuklearmarkt in einem zertifizierten Qualitätssystem erfolgt, „das engmaschig intern und extern durch qualifiziertes Personal überwacht wird. Hierzu gehören auch die Zulieferanten von Material und Dienstleistung“, unterstreicht Mücher. Die anzuwendenden Regelwerke legen, abhängig von den Einsatzbedingungen und deren Sicherheitsrelevanz, alle erforderlichen Qualitätsmaßnahmen fest.
Einbindung lokaler Partner in China
„Das Umsetzen der Regelwerke beginnt bereits bei der regelwerkkonformen Entwicklung, Konstruktion und Berechnung der Armaturen sowie bei der regelwerkkonformen Werkstoffauswahl.“ Durch eine Vorprüfung der vollständigen Dokumentation durch benannte Stellen werde die Konformität des Regelwerks sichergestellt. „Anschließend startet der Fertigungsprozess mit zahlreichen Unterbrechungen durch vorgeschriebene herstellungsbegleitende Prüfungen, die durch qualifizierte interne und externe Personenkreise durchgeführt werden“, erläutert Mücher. Eine abschließende, entsprechend überwachte Funktions- und Festigkeitsprüfung durch die Sachverständigen schließe die Herstellung ab.
China besitzt allerdings seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Einbindung lokaler Partner spielt eine immer wichtigere Rolle, da insbesondere bei Großprojekten Wertschöpfung im Land bleiben soll. „Unsere Aufgabe ist es dann, beispielsweise in China für China einzukaufen und dabei keine Abstriche an unseren Qualitäts- und Prozessanforderungen zu machen“, erläutert Dr. Tomas Hahn von der Framatome GmbH.
Erfahrung wird geschätzt
Einen Großauftrag für China zog beispielsweise Sempell an Land. Das Unternehmen lieferte insgesamt 236 Armaturen für das KKW Tianwan Block 3 und 4. Die Blöcke 3 und 4 sind Druckwasserreaktoren Typ VVER 1000/428M und werden von dem russischen Unternehmen Atomstroyexport ausgerüstet. Die verschiedenen Absperrschieber und Klappen kommen im Notkühlsystem, im Frischdampfsystem und im Sprinklersystem zum Einsatz. Der Auftrag umfasst für die Hochdruckbereiche 84 Schieber Typ GPS5 DN 300 und 52 Klappen Typ HKS5 DN 300 aus Schmiedestahl und für die Mitteldruckbereiche weitere acht Schieber Typ GPS5 DN 600, 68 Schieber Typ GPS3 DN 300 und 24 Klappen Typ HKS5 DN 300.
Zu den Armaturenherstellern, die in großem Umfang den Nuklearmarkt bedienen, gehört auch Velan. Ein Unternehmen, das schon in den ersten Tagen der Atomindustrie in den 1950er Jahren Komponenten für diese Branche bot. Velan beliefert mehrere hundert Kernreaktoren weltweit. Persta Stahl-Armaturen ist ebenfalls schon seit langem im Nuklearbereich aktiv. Seit Mitte der 1960er Jahre bietet das Unternehmen Armaturen wie etwa Absperrschieber. Der sensible Anwendungsbereich erfordere „höchste Sicherheitsstandards und aufwendige Dokumentation“, betont Persta Stahl-Armaturen. Anwender setzen natürlich gerne auf die Erfahrung solcher seit langem im Nukleargeschäft etablierten Unternehmen.
Zukunft bleibt offen
Erfahrung, die noch lange benötigt wird. Wie sehr – das lässt sich allerdings kaum abschätzen. Framatome als Zulieferer von Nukleartechnologie sieht deren Zukunft naturgemäß optimistisch. „Die Zahl der Länder, die Kernkraftwerke betreiben, wird zunehmen, es wird mehr Kernkraftwerke weltweit geben als heute. Und Framatome wird weiterhin an Neubauprojekten mitwirken, Service und Modernisierungen für laufende Anlagen leisten und Brennelemente liefern“, sagt Dr. Tomas Hahn, Mitglied des Leitungskreises der Framatome GmbH. Aber es gibt andere, die mit Blick auf Konkurrenzfähigkeit, Sicherheit und die Atommüll-Entsorgungsfrage zweifeln. Wie gesagt, das Thema spaltet weiterhin die Gemüter – birgt aber dennoch ein großes Potenzial für Armaturenhersteller.
Aktuelle Technologien und Produkte sind auf der VALVE WORLD EXPO, der Nr. 1 Messe für Industriearmaturen und Ventile, vom 1. bis 3. Dezember 2020 in den Hallen 1, 3 und 4 des Düsseldorfer Messegeländes zu sehen.